die bib­lische Geschichte von Kain und Abel (1. Mose 4) stellt Fragen,
die uns bis in die Gegenwart herausfordern.
Mit List zieht Kain gegen seinen Bruder Abel ins Feld,
um über ihn herzufallen.
Er erträgt es nicht,
dass sein Werk keines gnädigen Blickes gewürdigt wird.
Diese tiefe Kränkung des Zurückgesetztseins lässt ihn zum Täter werden.
Kain erschlägt seinen Bruder Abel.
Als er sich vor Gott für seine Tat verantworten soll,
flüchtet er in die Opferrolle.
»Wo ist dein Bruder Abel?« Kain weicht mit einer Gegenfrage aus.
»Soll ich meines Bruders Hüter sein?«
Er sieht nur das eigene Schicksal, aber nicht seine Blutschuld.

»Was hast du getan?«
Auf das zum Himmel schreiende Unrecht, das er begangen hat,
zeigt er keine Reue.


»Abel steh auf«, – so heißt ein Gedicht der Lyrikerin Hilde Domin.
Sie versucht die böse Geschichte von Kain und Abel anzuhalten,
bevor sie an ihr schreckliches Ende kommt.
Abel steh auf.
Frag Kain, ehe es zu spät ist.
Frag ihn, ob er nicht dein Hüter sein muss,
weil er doch dein Bruder ist.

»Ist es nicht so«, – fragt Gott Kain vor seiner Tat –
»Wenn du Gutes planst, kannst du den Blick frei erheben?
Hast du jedoch nichts Gutes im Sinn, dann lauert Sünde an der Tür und lockt dich?
Aber du darfst ihr nicht nachgeben!«

Um die eigene Macht zu erhalten haben sich Despoten zu allen Zeiten
von Demagogie, Lüge und Rechtsbruch locken lassen.
Aus der eigenen Erinnerung an Kriege und Gewalttaten
will Hilde Domin einen Impfstoff für die Nachgeborenen gewinnen,
einen Impfstoff gegen Barbarei und Unmenschlichkeit.

Mit Aschermittwoch hat die Passionszeit begonnen –
Zeit, um die Au­gen vor dem Leiden in der Welt nicht zu verschließen.
»Abel steh auf,
damit es anders anfängt
zwischen uns allen…«